ZEN
Das Geheimnis der sieben Öffnungen
Eine alte chinesische Sage erzählt: Bevor unsere
Welt zu der wurde, was sie ist, herrschten drei Könige unter dem Himmel:
Der Herr der Südmeere war die Ungeduld. Der Herr der Nordmeere war
die Unruhe. Der Herr des Landes der Mitte war das Chaos. König Chaos
hatte weder Augen, noch Ohren, weder Mund, noch eine Stimme. Daher kannte
man damals keine Wahrnehmung, keine Empfindung, keinen Willen; es gab keine
Unterschiede und keine Gegensätze unter dem Himmel.
Ungeduld und Unruhe trafen sich oft im Lande von
Chaos, und jedesmal begegnete Chaos ihnen mit Freundlichkeit. Eines Tages
überlegten Ungeduld und Unruhe, wie sie diese Freundlichkeit vergelten
könnten. Sie sagten: "Jeder von uns hat sieben Öffnungen am Kopf:
zum Sehen, zum Hören, zum Essen, zum Atmen. Nur er hat keine. So wollen
wir versuchen, auch ihm diese sieben Öffnungen zu bohren." Sie bohrten
an ihm sieben Tage lang, jeden Tag eine Öffnung. Am siebten Tag war
Chaos tot...
So kamen Wahrnehmung, Empfindung und Willen zur Welt.
Wir haben angefangen zu sehen und zu hören; das Gute erkannten wir
als gut, das Schöne als schön, das Wahre als wahr. Und so gab
es von da an auch schlecht und häßlich und falsch. Wir haben
gelernt zu leben und zu sterben; Glück und Unglück haben wir
kennengelernt. So wurde unsere Welt eine Welt, die zehntausend Wesen mit
Leben erfüllt; sie wurde eine Welt vieler Stimmen und vieler Farben.
Doch jene absolute Ruhe, wie sie im Lande des König Chaos herrschte,
ging uns für immer verloren. Manchmal sehnen wir uns mit einem Stechen
im Herzen an die endlose Stille der Zeit vor dem Anfang aller Zeiten. Der
chinesische daoistische Eremit und Dichter des Altertums, Han Shan hat
zu den sieben Löchern an unserem Kopf die zwei am Unterleib hinzugefügt
und folgendes geschrieben:
Schön waren die Zeiten des Chaos.
Weder kannten wir den Hunger
noch mußten wir pinkeln.
Wer war es, der uns mit den neun Löchern
am Kopf und am Arsch
heimgesucht hat?
Täglich müssen wir nun essen, uns anziehen,
Steuern zahlen, uns ärgern.
Für Paar Groschen
schlagen wir uns gegenseitig die Köpfe ein,
gehen einander an die Gurgel,
und schreien,
daß wir uns die Kehlen aufreißen.
Und wie der Zufall will, schrieb zwölf Jahrhunderte
danach, Mitte zwanzigsten Jahrhunderts, der türkische Dichter Orhan
Veli Kanik, der vermutlich nie was von Daoismus gehört hatte, eine
daoistische Antwort auf die Verse seines chinesischen Kollegen – auf Verse,
von denen er wohl nie was gewußt hat. Die Vielfalt der Welt liebevoll
begrüßend schrieb er mit einem lächeln in den Lippen:
Wenn nur dieser Streit aufhören würde,
sagst du,
Wenn ich nur nicht Hunger hätte, sagst du,
Wenn ich nur nicht zu pinkeln brauchte, sagst du,
Wenn ich nur nicht zu schlafen brauchte, sagst
du;
Sag dann doch gleich, daß du sterben willst!
Man sagt, das Instrument, dessen Klang der menschlichen
Stimme am meisten ähnelt, sei Ney. Auch Ney hat seine sieben Öffnungen,
wie der Mensch. Die Sufis sagen, mit seinem geheimnisvollen Klang gebe
Ney der Sehnsucht des Menschen nach dem verlorenen Paradies Ausdruck: Sie
weine den Zeiten nach, wo sie ein Schilfrohr im Schilf war, bevor man ihn
dort gebrochen, sein Herz durchbohrt und auf sein Leib sieben Öffnungen
eingebrannt hat. Maulana Dschelaladdin Rumi fängt sein monumentales
Werk Masnawie mit folgenden Versen an:
Hör der Ney zu, was sie zu beklagen hat,
was sie von Trennungen zu erzählen hat.
Vom Schilf hat man mich gebrochen.
Meinem Schrei weinen alle Männer und Frauen
nach.
Die Derwische des Maulawie–Ordens praktizieren lange,
manchmal Stundenlang Demm: Demm ist keine Musikart. Der Derwisch, der Demm
praktiziert, muß weder ein Meister–Neyzen sein, noch braucht er besondere
musikalische Kenntnisse dazu. Demm ist ein tiefer, schwacher, langer Ton,
der die tiefe Stille einer engen Zelle mit seinen Vibrationen ausfüllt
und sich in die Unendlichkeit erstreckt. Die Hände umfassen Ney, als
würde man die Geliebte streicheln. Die Finger schließen die
sieben Öffnungen, die siebzig Töne in sich bergen. Die Lippen
berühren das Mundstück wie mit einem sanften Kuß. Die Ney,
deren sieben Öffnungen geschlossen, deren sieben Wunden geheilt sind,
gibt ihren tiefsten Ton, den "Kaba Rast" preis. Die Zeit bleibt stehen.
Die Ney kehrt in die Zeit zurück, bevor sie aus dem Schilf gebrochen
war, und der Mensch folgt ihr in die Zeit vor dem Anfang aller Zeiten,
jenseits von Gut und Böse...
Ich lese meinem Ney-Lehrer diese Zeilen vor. "Schön
geschrieben," sagt er, "Doch man merkt, daß du nicht genug
Demm praktiziert hast. Das sind alles Produkte des natürlichen Forschungsdrangs
des suchenden Menschen: Manche nennen ihn Gott, manche ergeben sich dem
Alkohol oder dem Glücksspiel, oder sprechen eben schöne Worte.
Wenn du hinreichend Demm praktizierst, dann verschwinden im Gipfel des
Nichts die Worte. Dann hört dein Ich auf, ein Hindernis zwischen dir
und der Welt zu sein..."
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